Freitag, 2. Dezember 2011

Überblick über Alexithymie


In den einzelnen Beiträgen habe ich bisher versucht einen mehr oder weniger tiefen Blick auf einzelne Aspekte der Alexithymie zu geben. Ich kann mir vorstellen, dass dabei die Übersicht etwas gelitten hat. Deshalb versuche ich jetzt mal eine Übersicht, in der ich mich auf den meines Wissens unumstrittenen Wissensstand beschränke. Ich setze dabei die Begriffe Gefühl und Emotion gleich. Basis ist ein Beitrag des Teilnehmers Protsi im Forum auf alexithymie.org den ich vor Kurzem gefunden habe.

Der Begriff:

Alexithymie ist der Name für bestimmte Perönlichkeitsmerkmale von Menschen. Alexithymie ist keine Krankheit und für sich alleine kein Problem. Übersetzen kann man Alexithymie mit "Nicht-lesen-können der Stimmung". Alle Menschen neigen dazu, manche eigenen Gefühle zu unterdrücken oder Gefühle bei sich selbst oder bei anderen falsch einzuschätzen. Die Grenzen, wie stark diese Neigung ausgeprägt ist, sind dabei sind fließend. Von Alexithymie wird erst dann gesprochen, wenn das Unterdrücken oder die Fehleinschätzung von Gefühlen ein bestimmtes Ausmaß überschreitet. Ansonsten wären alle Menschen von Zeit zu Zeit alexithym. Ob ein Mensch alexithym ist, kann z .B. mit der Toronto Alexithymie Skala (TAS) ermittelt werden.

Der Inhalt:

Eine alexithyme Bearbeitung des eigenen Innenlebens bedeutet nicht, dass man gar keine Gefühle hat. Es kann dem Betroffenen oder seinen Angehörigen jedoch so vorkommen.

Menschen ohne irgendeine Emotion haben eine schwere neurophysiologische Störung, eine komplette Athymie. Sie sind völlig unfähig, irgendeine Entscheidung zu treffen. Jede menschliche Entscheidung braucht mindestens ein Stückchen Emotion als Grundlage. Egal wie logisch überdacht die Entscheidung ist. Athymie kommt selten vor und ist in der Regel mit einem Hirnschaden verbunden. Die Unfallopfer erstarren in einer endlosen logischen Schleife. Sie analysieren immer wieder ihr weiteres Vorgehen, ringen sich aber nie dazu durch etwas zu tun. Der Hungrige sitzt vor seinem Essen und stirbt nach ein Paar Tagen vor Durst und Hunger.

Menschen die eigene Emotionen überhaupt nicht wahrnehmen, haben die schwerste Form der Psychopathie. Die Emotionen sind im Psychopathen zwar da, sie werden aber nicht als solche erkannt. Die meisten Psychopathen sind nicht so schwer betroffen. Sie können vieles wahrnehmen, schalten aber die unangenehmen, bestrafenden Emotionen eher aus und können sich nicht in andere Menschen versetzen. Sie machen, wozu sie Lust haben, agieren instinktiv, ohne emotionelle Rücksicht, ohne Empathie.

Alexithymie ist etwas zwischen Athymie und Psychopathie. Alexithyme Menschen haben Emotionen. Manche Alexithyme nehmen Gefühle sogar sehr gut wahr, sowohl bei sich selber, als auch bei anderen. Das Wahrnehmungsspektrum ist jedoch enger und die Grenzen zwischen unterschiedlichen Emotionen sind viel verschwommener als bei den meisten Menschen.

Wo die meisten Menschen einen Regenbogen an Gefühlen wahrnehmen, nehmen Alexithyme einen flackernden, grauen Streifen wahr. Statt Zorn, Eifersucht, Angst usw., nehmen sie etwas war, von dem sie nicht wissen, ob es unangenehm, irritierend oder lustvoll ist. Es ist ihnen unklar. Vielleicht ist da etwas, vielleicht ist da aber auch nichts.

Der bewusste Zugang zu ihrer eigenen Befindlichkeit ist bei Menschen mit Alexithymie herabgesetzt. Sie spüren oft, dass etwas in ihnen vor sich geht, können es aber nicht präzise beschreiben. Sie merken oft körperliche Veränderungen, z.B. Herzrasen, Schwitzen, schnellerer Atem, wissen aber oft nicht, warum diese Veränderungen vor sich gehen. Herzrasen, Schwitzen und einen schnelleren Atem hat man beim Sport, bei Angst, bei Wut. Manchmal auch bei Verliebtheit, Lust oder Hunger.

Alle Menschen haben manchmal körperliche Symptome, die sie nicht zuordnen können. Bei Alexithymen ist das einfach ausgeprägter. Wenn sie sich selbst auf emotioneller Ebene aber nicht so gut kennen, fällt es ihnen umso schwerer, sich auf der emotioneller Ebene der Mitmenschen zu Recht zu finden. Deshalb ist ihre Empathie herabgesetzt.

Die Auswirkungen:

Meistens erkennen Alexithyme einige einfache und starke Emotionen. Die meisten Gefühle und vor allem die feineren Gefühle gehen quasi verloren. Wel Alexithyme bei sich nur die Emotionen erkennen, die für sie spezifisch sind, verlieren Gefühle in ihrem Leben an bewusster Bedeutung. Alexithymie können durchaus wissen, dass sie oder andere bestimmte Gefühle haben. Für sie sind diese Gefühle aber nicht besonders wichtig. Unbekannte Gefühle sind für Alexithyme oft sogar störend. Besonders über Gefühle zu reden, fällt Alexithymen schwer. Gefühle sind in ihren Augen unwichtig. Deshalb lohnt es nicht über Gefühle zu reden oder bei den anderen nach Gefühlen zu suchen.

Mit dem begrenzten inneren Verständnis für Gefühle sinkt auch die Empathie für andere. Aus Sicht eines Alexithymen sind sehr viele alltägliche Verhaltensmuster sinnlos. Weil sie z.B. bei Kontakten keine positiven, emotionalen Bindungen spüren, besteht für sie auch kein Anreiz Kontakte zu pflegen. Kontakte bringen für sie keine Belohnung.

Die Ursachen:

Die Veranlagung zur Alexithymie kann angeboren sein. Alexithymie kann aber auch erlernt werden. Entweder lernt ein Mensch erst gar nicht die eigenen Emotionen wahrzunehmen, oder er verlernt diese Wahrnehmung aufgrund von unangenehmen Erlebnissen. In beiden Fällen scheint die frühe Kindheit sehr wichtig zu sein. Wenn ein Kind die gezeigten Gefühle der Eltern, z.B. Lächeln der Mutter beim Stillen, nicht mit dem eigenen Befinden spiegeln kann, z.B. Wohlbefinden und Sättigung, kann das Kind alexithym werden. Wenn ein Kind aus seiner Sicht ständig unangenehmen emotionellen Reizen ausgesetzt wird, kann es aus Selbstschutz alexithym werden. In beiden Fällen wird Alexithymie zu einem wichtigen Merkmal der eigenen Persönlichkeit.

Mögliche Folgen:

Einige mögliche Merkmale der Alexithymie entsprechen Merkmalen, die auch bei Autismus auftreten. Dazu gehören das wörtliche Verstehen des Gesagten, feste Verhaltensweisen, das Kopieren von Aussagen oder Tätigkeiten anderer Menschen und der Fokus auf die eigene, innere Welt.

Emotionen, die nicht wahrgenommen werden, äußern sich oft trotzdem auf der körperlichen Ebene. Das kann zu psychosomatischen Beschwerden führen, z.B. Herzrasen, Verdauungsbeschwerden, Schlaflosigkeit usw. Obwohl Alexithyme ihre Gefühle schlecht erkennen, können sie psychische Störungen entwickeln, wie Depressionen. Wenn man etwas nicht sehen kann sind die Auswirkungen fast genau so, wie die Auswirkungen wenn man etwas nicht sehen will.

Alexithyme sind of besonders realistisch. Selbst wenn sie sich mit ihrer inneren Welt beschäftigen, ist ihre innere Welt sehr nahe an der Realität. Ohne viel Bezug zu Gefühlen, wird auch nicht viel fantasiert. Das Leben besteht aus schlafen, essen, waschen, arbeiten. Alexithyme träumen oft gar nicht, oder ihre Träume sind sehr realitätsnah. Sie träumen z.B. dass sie in ein Geschäft gehen, Schuhe kaufen und danach Burger essen gehen.

Der Sextrieb ist manchmal gering ausgeprägt, weil Sex mit Fantasien verbunden ist. Mit Suchtverhalten, z.B. Alkoholmissbrauch, werden manchmal gefühlsähnliche Reize durch künstliche Einwirkung gesucht.

Häufigkeit:

Alexithymie betrifft in unterschiedlich starker Ausprägung ca. 10% aller Menschen. Zeitweise können sogar alle Menschen auf diese Weise ihre Emotionen bearbeiten. Bei diesen 10% ist es jedoch deutlicher.

Therapie:

Es ist eine philosophische und psychotherapeutische Grundsatzfrage, ob man etwas therapieren kann, darf und soll, das die Betroffenen nicht stört und die Umgebung nicht wirklich gefährdet.
Je nach Ursache der Alexithymie gibt es Ansätze den Betroffenen mehr Zugang zu Gefühlen zu vermitteln. Das kann z.B. geschehen, indem bestimmte Ereignisse und die körperlichen Reaktionen darauf bewusst herbei geführt und beobachtet werden.

1 Kommentar:

  1. Ich glaube nicht, daß man bei diesem Thema Gefühle und Emotionen gleichsetzen darf. Da liegt meiner Meinung nach nämlich das Problem. Alexithyme haben nämlich Gefühle aber keine Emotionen. Gefühle lösen "unangenehme" körperliche Symptome aus. Gefühle werden nicht als angenehm empfunden. Emotionen sind für sie gefählich und werden abgelehnt. Man geht ihnen aus dem Weg, zieht sich zurück.

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