Sonntag, 31. Mai 2009

Die (Web-)Öffentlichkeit


Wer im Web nach dem Begriff Alexithymie sucht, findet die abenteuerlichsten Aussagen. Da ist in Foren die Rede von Psychopathen, die weggesperrt werden müssen. Auch von einem Vormarsch der „Mutanten“, der verhindert werden müsse, ist zu lesen.

Da werden Menschen, die aufgrund von Unfällen bestimmte Gehirnschäden aufweisen und in der Folge jähzornig, unberechenbar und pflichtvergessen sind, als emotionslos und unerhört distanziert bezeichnet. Das wird dann gefühlsblind genannt. Und weil solche Menschen in theoretischen Fragestellungen antworten, einen ihnen bekannten Menschen zu opfern, wenn sie dadurch mehrere Unbekannte vor dem Tod retten können, wird ein Tötungsimpuls unterstellt, der Realität werden kann. Auch wenn in der vollständigen Argumentation, die ich stark auf das Wesentliche verkürzt habe, die Halbwahrheiten, Argumentationssprünge, Widersprüche usw. leicht erkennbar sind, kommt bei mir an:
Gefühlsblinde Menschen sind in den Augen vieler Mitmenschen potenzielle, eiskalte Mörder.

Viele Webseiten betrachten Alexithymie aus wissenschaftlicher Sicht. Zahlreiche Studien sind zu lesen, zumindest als Zusammenfassung. Dort geht es oft um Details. Es gibt z.B. viele Studien über den Zusammenhang zwischen speziellen Verhaltensweisen und Hirnaktivitäten, die auf Untersuchungen mit Kernspintomographen beruhen.
Ob Kernspintomographen bei komplexen Vorgängen wirklich aussagekräftig sind und ob wirklich alle Hirnaktivitäten gemessen werden, ist umstritten. Solche Studien können deshalb Hinweise geben, dürfen aber auch nicht als ultimative Wahrheit angesehen werden.

Glücklicherweise gibt es auch ein paar Seiten, auf denen nicht Betroffene versuchen sich fair mit dem Thema auseinander setzen, abseits von wissenschaftlichen Interessen. Dazu gehören reine Informationen, z.B. auf Gesundheitsseiten, Beiträge bei einigen Nachrichtenportalen und Foren, die sich an Betroffene und nicht Betroffene richten. Aber auch auf solchen Seiten werden die Dinge in erster Linie aus der Sicht von nicht Betroffenen betrachtet. Betroffene werden mehr oder weniger stark ausschließlich als Problemfälle dargestellt. Selbst wenn Alexithyme dort auftreten, geht es in der Regel um Selbstvorwürfe.

Die so genannten Medien müssen möglichst spektakulär berichten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dort gibt es deshalb in der Regel Beschreibungen, bei denen mir nicht klar ist, ob es diese Fälle in dieser Form überhaupt gibt, oder ob es sich um dramatische Überhöhungen oder sogar Missverständnisse handelt.

Es ist positiv, dass das Thema bekannt gemacht wird. Auf der anderen Seite haben gerade diese Extremdarstellungen bei mir viele Jahre bewirkt, dass ich zwar leichte Ähnlichkeiten in einigen Punkten erkannte. Aber letztendlich kam ich immer wieder zum Schluss kam, dass ich doch nicht betroffen sei.

Forenbeiträge müssen besonders kritisch gelesen werden. In Foren werden oft Behauptungen aufgestellt, die eindeutig falsch sind, und Empfehlungen abgegeben, die zumindest fragwürdig sind. Welche Interessen die Beiträge beeinflussen, ist in der Regel unbekannt.

Aussagen in Foren und auf Webseiten müssen unbedingt anhand anderer Quellen hinterfragt werden. Angaben von scheinbar noch so kompetenten Teilnehmern und sich noch so "wissenschaftlich" gebende Ausführungen haben sich schon oft als falsch bzw. als Pseudowissenschaft erwiesen. Auch konkret bei dem Thema Alexithymie.

Ein leicht nachvollziehbares Beispiel ist die Zahl vermutlich Betroffener in Deutschland. An sehr vielen Stellen steht, dass ca. 10 Prozent der Gesamtbevölkerung betroffen sind und dass dies etwa 800 000 Betroffene sind. 10 Prozent von 80 Millionen sind 8 Millionen. Das hat natürlich auch tief greifende Auswirkungen auf die Sicht auf Alexithymie. 8 Millionen Menschen kann man z.B. nicht mal eben als krank einstufen. So gravierende und offensichtliche Fehler lassen weitere Fehler und Missverständnisse der jeweiligen Autoren erwarten.

Übrigens sollten auch meine Aussagen anhand anderer Quellen geprüft werden. Ich schreibe nach bestem Wissen und Gewissen und nach sorgfältiger Prüfung. Aber es können mir leider auch Fehler passieren.

Positives über Alexithymie und Betroffene ist praktisch nie zu lesen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Betroffene so still sind. Es ist ja sowieso nicht erstaunlich, dass Leute, die unter Anderem nicht gerne über Gefühle sprechen, sich nicht gerade lautstark bemerkbar machen. Da motiviert die negative Publicity erst recht nicht dazu, sich selbstbewusst zu Wort zu melden.

Wenn ich so intensiv über das öffentliche Bild nachdenke, fallen mir diverse Vampir-, Alien- und X-Man&Co-Filme ein, in denen Wesen mit besonderen Eigenschaften versuchen, unerkannt in der feindlichen Menschheit zu überleben. Also tatsächlich Mutanten. Evtl. unterstützt von einigen heldenhaften Menschen, die die Fremden gegen die eigenen Artgenossen verteidigen. Natürlich retten beide Gruppen zusammen die gesamte Menschheit.
Das wäre doch was. Unverstandene Helden. Aber so schlimm ist es dann doch nicht. Oder doch? Jedenfalls ist es kein bewusster Vorgang. Aber manchmal könnte es einem fast so vorkommen.
Ob die Erfinder dieser Bücher bzw. Filme Alexithymie hatten? Schluss mit der Spinnerei. ;-)

Es gibt in Foren eine Reihe von Hilferufen, in denen Bekannte von Betroffenen um Hilfe bitten. Scheinbar können Betroffene für Andere ganz schön anstrengend sein. Solche Hilferufe sind also wohl berechtigt. Aber ich würde gerne mal Lesen, dass wir auch positive Eigenschaften haben, die ausgeprägter sind, als bei Anderen.
Wenn ich „wir“ schreibe, dann tue ich so, als wenn ich ein typisches Exemplar der Gattung Alexithymie-Mensch bin und für diese stellvertretend schreibe, obwohl das sehr anmaßend und evtl. falsch ist. Dieser Hinweis gilt auch künftig.

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